In der Karwoche gehen wir in diesem Brief Christus nach. Der Weg führt ins (himmlische) Jerusalem und damit zum großen Geheimnis unseres Glaubens, wo die Passion Christi und unsere persönliche Leiden in der Auferstehung des Herrn erlöst werden. Der Weg dorthin wird biblisch begleitet durch den lukanischen Reisebericht, der uns das Christsein in der Welt vermittelt, für das exemplarisch das Evangelium vom barmherzigen Samariter steht. P. Notker hat einen Exerzitienbrief verfasst, den wir selbst zuhause als geistliche Übung nutzen können. Sie bestehen aus persönlich Erlebtem, das im Evangelium und in der Regel des heiligen Benedikt seine Entsprechungen findet.
Lukanischer Reisebericht: Der barmherzige Samariter
P. Notker schreibt: „Ich möchte euch zunächst wieder ein, zwei Geschichten erzählen, bevor wir den Evangelien-Text nach Lukas direkt aus der Bibel hören.
Auf dem Weg ins Kloster
In Stuttgart in der Königstraße, welche vom Hauptbahnhof in gerader Linie zum Neuen Schloss und Schlossplatz führt, stand ich vor dem Schaufenster der Herder-Buchhandlung. Ich war damals gerade 22 Jahre alt geworden und mich beschäftigte die Frage, ob ich ins Kloster eintreten solle nach meiner ersten Kommunal-lnspektoren-Prüfung oder ob ich doch eher den „Normalweg“ eines Christen gehen und mit „meiner Resi“ den Bund der Ehe eingehen solle. Die Stimme in meinem Herzen hatte mir in der letzten Zeit einfach keine Ruhe gegeben und ich hoffte in einer katholischen Buchhandlung ein Buch zu finden, in dem ich eine Antwort auf meine Frage erhalten würde. Im Gewimmel der Passanten zupfte mich ein kleiner Italiener am Ärmel. Ich zuckte zunächst zusammen und schaute ihn fragend an. Er sagte zu mir: „Meine Familie wohnt in Cannstatt und meine Kinder haben nichts zu essen; können Sie mir diese Uhr abkaufen für 20.- DM, bitte, bitte?“ Alles Mögliche schwirrte mir durch den Kopf: „…wohl alles verlogen … vielleicht doch wahr … habe ja selbst nur 20 Mark in der Tasche, um mir ein Buch zu kaufen über den Kloster-Eintritt“. „Bitte, bitte“, wiederholte er und hielt mir die Uhr hin. „Na gut“, sagte ich, „da haben Sie 20 Mark, die Uhr können Sie behalten“. Er steckte den Schein sofort ein und schon war er, ein paar mal dankend und sich verneigend, im Gewimmel der Königstraße verschwunden. Kein Buch über Ordens-Eintritt, ein halbes Jahr später war ich dennoch im Kloster. Soweit meine Geschichte und nun die Geschichte meiner Eltern:
Leben bei Christus
Meine Eltem haben gleich nach der Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft Anfang der 1950er Jahre ein Haus in Schönaich gebaut. Die Gemeinde hat den Flüchtlingen dieses steinige Hang-Areal als Bauplätze zur Verfügung gestellt. Jahre vergingen, die Katholiken hatten keine eigene Kirche in dieser protestantischen Gemeinde und sonntags am Nachmittag war dann der Gottesdienst in der lutherischen St. Leonhards-Kirche. Meinem Vater – urkatholisch, erzkatholisch, knochenkatholisch – gefiel dieser Zustand nicht. Meine Mutter und er beschlossen, unser unteres Stockwerk des neuen Hauses als Diaspora-Notkapelle der katholischen Kirche zur Verfügung zu stellen. So kam es: Bei uns im Hause war das Allerheiligste im Tabernakel, jeden Morgen außer am Sonntag die Heilige Messe und die Batschka-Flüchtlingsfrauen saßen da in den drei Bankreihen mit ihren schwarzen Kopftüchlein, den langen schwarzen Röcken und beteten laut den Rosenkranz bis der Kurat mit der Heiligen Messe begann. Als die katholische Kirche gebaut war, blieb der bisherige Kapellenraum trotzdem „Gottes Stüble“. Kroaten, Serben, Italiener, alle möglichen Gastarbeiter, die noch keine Wohnung hatten, durften als Übergangszeit mietfrei darin wohnen. Auch eine schwangere Frau von der Straße, die keine Bleibe hatte, brachte dort ihr Kind zur Welt. Auch hier Ende der zweiten Geschichte. Wir lesen als nächstes im Lukasevangelium die Samariter-Geschichte.
Der barmherzige Samariter (Lk 10, 25-37)
25 Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? 26 Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. 28 Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! 29 Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? 30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. 31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. 32 Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, 34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. 35 Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? 37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!
Gute Werke statt Gelehrigkeit
Die Frage des Gesetzeslehrers: Wer ist mein Nächster? gibt Jesus die Gelegenheit zur Antwort, zur Antwortgeschichte im Gleichnis; der Hörer erkennt, dass im Reich Gottes jetzt gültige Werte, Rangfolge und Maßstäbe wertlos werden: Einer ist unter die Räuber gefallen, zwei andere gehen ungerührt ihres Weges. Ihre Haltung ist verständlich und entschuldbar; sie lassen sich durch den „Zwischenfall“ nicht von Weg und Ziel abbringen. Ein dritter kommt und hilft spontan.
Seine Fürsorge ist unberechnet, maßlos und grundlos. Sogar die Berufenen versagen, sie übersehen die konkrete Situation. Gottes Anruf im Augenblick nicht wahrhaben und nicht wahrnehmen wollen. Jesu Frage (Vers 36) lautet anders als die des Gesetzeslehrers (Vers 29). Seine Weisung heißt: Gehe hin und tue das Nächste! Jesus lässt keinen jener Entschuldigungs-Gründe gelten, wie sie von den „Frommen“ aller Zeiten vorgebracht werden, wenn sie sich dem unbequemen Zugriff Gottes entziehen wollen. Man müsse seine Kraft für den engeren eigenen Aufgaben-Bereich sparen, sich um die eigene Vervollkommnung mühen, „Härte“ sei notwendig, um der letzten Heiligkeit willen, den letzten Schliff zu geben, man dürfe die „Reinheit“ nicht aufs Spiel setzen (zumal wenn sie, wie im Fall jenes Priesters, im Dienst Gottes und der Gemeinde zu stehen scheint). Für Jesus – und das Reich Gottes – zählt einzig das Verhalten zum Nächstliegenden, mit dem Gott unsern Weg kreuzt; nicht gelehrte Streitfragen, nicht die Berufung auf geschriebene Gebote, einzig die unberechnete und unberechnende Tat der Liebe.
Papst Johannes Paul II. und Edith Zierer
Als Papst Johannes Paul II. im Jahre 2000 bei seiner Pilgerreise ins Heilige Land die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht hat, ist er dort mit einer Israeli aus Haifa zusammen getroffen, mit Edith Zierer. 55 Jahre zuvor, im Januar 1945, war er dieser jüdischen Frau, die damals ein 14-jähriges Mädchen war, schon einmal begegnet. Sie war mit Glück aus einem deutschen Arbeitslager, in das man sie als Kind verschleppt hatte, geflohen und irgendwo völlig entkräftet halbtot liegen geblieben. Niemand hat sich im Elend und Chaos der letzten Kriegstage um das Mädchen gekümmert. Der spätere Papst, damals noch Seminarist, bemerkte sie, fragte sie nach ihrem Namen (bis dahin war sie nur eine Nummer), besorgte ihr zu essen und zu trinken. Dann hat er sie zehn Kilometer weit bis zu einem Warschauer Bahnhof getragen. Dort fanden sie einen Zug nach Krakau, wo das Mädchen ihre Verwandten suchte. Er hat ihr, so empfindet Edith Zierer, das Leben gerettet.
Die Begegnung in Yad Vashem zwischen dem Papst, ihr und einigen anderen Überlebenden des Holocaust war ergreifend, erschütternd sogar, weil dieses Überleben in so starkem Gegensatz steht zum Leiden und Sterben der vielen Millionen Menschen, an die in Yad Vashem erinnert wird. In dieser Gedenkstätte, die die Ausrottung der Juden in Europa minutiös dokumentiert, wird die ganze Barbarei, zu der Menschen aneinander fähig sind, beklemmend handgreiflich. Gerade dort wirkt deshalb ein menschliches Verhalten, wie das von Johannes Paul II. an Edith Zierer, wie ein kleines Wunder, wie ein Hoffnungszeichen, weil es zeigt, wie wenig selbstverständlich hilfsbereites, beherztes Eingreifen für die andern ist, und dass es sich gleichwohl als möglich erweist.
Wem bist Du Nächster?
„Wer ist mein Nächster?“ fragt der Gesetzeslehrer Jesus. Er fragt nach seiner Eingrenzung, nach der richtigen Auswahl der Menschen, denen ich verpflichtet bin und die das Gebot von mir verlangt zu lieben – vielleicht die Familie, Freunde, Nachbarn, Lebens-, Kloster-Gemeinschaft. Das Beispiel vom barmherzigen Samariter, das Jesus als Antwort erzählt, dreht die Frage um: „Wer von diesen Dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde – der Priester, der Levit oder der Samariter?“ Keiner von den dreien hat sich den Überfallenen und Verwundeten als seinen Nächsten ausgesucht und mit ihm gerechnet. Aber der Samariter hat ihn in dieser Lage als seinen Nächsten erkannt und ihm entsprechend dem biblischen Gebot geholfen.
Natürlich gibt es Menschen, die wir lieben, die uns herzlich nahe stehen, für die wir durchs Feuer gingen, für die wir ein Opfer zu bringen bereit wären. Aber nicht nur sie sind unsere Nächsten, die zu lieben Jesus uns auffordert. Unsere Nächsten – das sind auch die, mit denen uns keine Zuneigung verbindet, das sind alle Menschen, auch die, die uns gleichgültig sind, die uns eigentlich nichts angehen, die uns vielleicht sogar auf die Nerven gehen und uns sogar abstoßen, für die wir aber in einer Situation plötzlich tatsächlich der nächste Mensch werden können, dessen Hilfe sie brauchen. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter veranschaulicht das ebenso einfach wie deutlich und braucht eigentlich keine Erklärung – ihr Sinn liegt auf der Hand. Sie ist so einfach und als Richtschnur so unmissverständlich, dass schon die Kirche der Kirchenväter sie als zu anspruchslos empfunden hat und sie wenigstens durch eine tiefsinnige Interpretation etwas raffinierter erscheinen lassen wollte. Origines, der Kirchenschriftsteller, um 185 bis um 254, schlägt vor, sie so zu verstehen: Der Mann, der herabstieg, ist Adam, Jerusalem meint das Paradies, Jericho die Welt, die Räuber sind die feindlichen Mächte, der Priester das Gesetz, der Levit die Propheten, der Samariter ist ein Bild für Christus, die Wunden des Überfallenen bedeuten den Ungehorsam der Sünde, das Wirtshaus ist die Kirche und das Versprechen des Samariters, wieder zu kommen, die Ankündigung der Wiederkunft Christi.
Dieser Versuch, eine tiefsinnigere, grundsätzliche Bedeutung in der Geschichte zu finden, einen Sinn, der bedeutsamer ist als bloß die Aufforderung, jemanden, der in Not geraten ist, beizustehen, weil sich dadurch die Nächstenliebe verwirklicht, deckt eine grundsätzliche Gefahr auf: die Gefahr, den Glauben und die Religion für etwas Abstraktes und Theoretisches zu halten – für eine bloße Interpretation der Welt, der Geschichte und des Lebens und dabei zu übersehen, dass weder Gott noch der Nächste noch die Liebe, die uns mit beiden verbinden soll, etwas Theoretisches sind.
Für den heiligen Papst Johannes Paul II., der als junger Mann das Mädchen gerettet hat, war das Gebot zur Nächstenliebe jedenfalls etwas ganz Praktisches und Konkretes und ebenso für Edith Zierer, denn deshalb hat sie damals überlebt. Vielleicht gehört manchmal nicht viel Überwindung dazu, so zu handeln, nur unsere Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, Gottes Wort konkret zu beherzigen sind nötig: Und dieses Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten (Vgl. Dtn 30,14).
Vom guten Eifer (RB 72)
Im 72. Kapitel, also kurz vor Schluss der Regel, fasst Benedikt nochmals seine ganzen Gedankenfülle zusammen und sagt vom guten Eifer, den die Mönche haben sollen:
Wie es einen bitteren und bösen Eifer gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es den guten Eifer, der von den Sünden trennt, zu Gott und zum ewigen Leben führt.
Diesen Eifer sollen also die Mönche mit glühender Liebe in die Tat umsetzen, das bedeutet: Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen; ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen;
im gegenseitigen Gehorsam sollen sie miteinander wetteifern;
keiner achte auf das eigene Wohl, sondern mehr auf das des anderen;
die Bruderliebe sollen sie einander selbstlos erweisen;
in Liebe sollen sie Gott fürchten;
ihrem Abt seien sie in aufrichtiger und demütiger Liebe zugetan.
Christus sollen sie überhaupt nichts vorziehen.
Er führe uns gemeinsam zum ewigen Leben.
Schlussgebet
Gott du bist unser Ziel
du zeigst tms das Licht der Wahrheit
und führst uns auf den rechten Weg
Gib uns die Kraft zu meiden
was deinem Namen widerspricht
lass uns nicht vorüber gehen an der Not des andern
und gib uns die Kraft
das Gute zu tun
das an unserm Lebens-Wegesrand auf uns wartet.
Darum bitten wir durch Christus unsern Herm.
Amen.
Surrexit Dominus vere – Der Herr ist wahrhaft auferstanden
Gesegnete Ostern wünscht Euch/Ihnen
Euer P. Notker OSB